Rein in die Komfortzone – warum andersrum manchmal richtiger ist
Veröffentlicht am 09.12.2024
Es scheint unhinterfragt gut zu sein, den eigenen Wohlfühlbereich zu verlassen, Neues zu wagen und sich zu fordern. Dies ist der allgemeine Tenor, wenn es um Laufbahn- und Persönlichkeitsentwicklung geht. Stillstand ist Rückschritt. In diesem Text wird der Fokus anders gesetzt: Ohne guten Stand auf sicherem Boden droht Stress und Überforderung.
Von Dr. Sina Bardill, Psychologin FSP und Supervisorin/Coach BSO
Der psychologische Begriff der Komfortzone umschreibt einen Bereich, der berechenbar ist: Man weiss, wer man ist und man weiss, was man kann. Tätigkeiten und Aktivitäten bewegen sich in Feldern, die vertraut sind, in denen sich auf Erlerntes und Erfahrenes zurückgreifen lässt. Überschaubare Herausforderungen können entspannt bewältigt werden und vielleicht ist sogar Routiniertheit in Bezug auf gewisse Aufgaben vorhanden.
Weshalb die Komfortzone wichtig ist
In solchen Feldern entsteht Selbstvertrauen, die eigene Leistung wird durch erfolgreiche Bewältigung bestätigt und es entsteht ein Grundgefühl von Sicherheit, den gestellten Aufgaben gewachsen zu sein. Erst auf dieser Basis kann es gelingen, die Komfortzone zu verlassen und auch neue und sich schwierig anfühlende Aufgaben anzupacken. Der Russe Lev Vygotsky hat schon in den 30-er Jahren des letzten Jahrhunderts das Konzept der «Proximativen Zone» entwickelt. Es besagt, dass Lernen – also die Erweiterung der bisherigen Kompetenz – von einer sicheren, begrenzten Zone ausgeht und aus kleinen Schritten bestehen soll. Wenn die Herausforderung zu gross ist, überwiegen Angst und Überforderung. Dann wird Lernen erschwert oder gar verunmöglicht, denn das Gefühl von Sicherheit ist elementar fürs Wohlbefinden. Das zeigt sich auch in körperlichen Anzeichen wie ruhigem Atem, funktionierender Verdauung oder gesunder Haut.
Dauerüberforderung als Standard?
Was bedeutet es nun, wenn dauernd der Ruf erschallt, seine eigene Komfortzone zu erweitern oder zu verlassen? Könnte vielleicht der enorm hohe Stresslevel der arbeitenden Bevölkerung in der Schweiz etwas damit zu tun haben? Der aktuelle Job-Stress-Index der Uni Bern zeigt ja, dass etwa ein Drittel der Arbeitstätigen übermässig gestresst und erschöpft ist (andere Studien kommen sogar zu noch höheren Raten). Die Vermutung liegt nahe, dass der enorme Veränderungsdruck die gesunden Grenzen überschreitet. Zu viel der psychischen Energie wird von herausfordernden, anspruchsvollen und unberechenbaren Aktivitäten absorbiert. Die eigene Komfortzone wird stetig kleiner und so der eigene Stand immer instabiler und prekärer. Der Körper ist im Daueralarmzustand mit allen entsprechenden Stresssymptomen. Dies kann dann im Gegenzug dazu führen, alles Neue, jegliche Veränderung abzulehnen in der Hoffnung, durch das Gewohnte wieder Sicherheit zu gewinnen.
Pendeln schafft Stabilität
Entwicklung ist erstrebenswert und zwingend notwendig. Sie passiert dann, wenn beide Elemente da sind: Sicherer Boden und Schritte ins Offene. Diese Schritte dürfen auch mal stark heraus- oder sogar überfordern, wenn der sichere Boden hilft, nachher die gemachten Erfahrungen zu verarbeiten und zu integrieren. Das alles gelingt, so Vygotski, dann besonders gut, wenn man auf Hilfe zurückgreifen kann. Die zwischenmenschliche gegenseitige Unterstützung befördert also Entwicklungsprozesse. Jemanden zu ermuntern, die eigenen Grenzen zu erweitern, kann also durchaus wertvoll sein - und fühlt sich sehr anders an als dauernder Druck und Nichtakzeptanz von begrenzten Möglichkeiten.
Vielleicht sind also sichere, behagliche Komfortzonen und mutige, verunsichernde Innovationszonen kein Gegensatz, sondern das 2-er-Team, das in Kombination Lebendigkeit ausmacht. Zentral dabei ist die Selbststeuerung: Je mehr Verantwortung für die Gestaltung von Lern- und Entwicklungsprozessen in der eigenen Hand liegt, desto höher ist die Chance für tatsächliche Entwicklungsschritte. Das macht Freude und man bleibt dabei gesund.
Bild: zVg